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Lesetipp: Alif der Unsichtbare

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Der dreiundzwanzigjährige Alif wohnt an einem fiktiven orientalischen Ort, im Buch die Stadt genannt. Er ist Hacker. Deswegen wird er auch unter seinem Hackernamen, seinem Handle, eingeführt: Alif, wie der erste Buchstabe im arabischen Alphabet. Er arbeitet für dubiose Gestalten, Terroristen, Anarchisten, Feministen, … Er arbeitet gegen die Zensur, gegen Bevormundung im Internet. Plötzlich hat es der gefürchtete Zensor und von der Regierung beauftragte Hacker-Jäger „die Hand“ ausgerechnet auf Alif abgesehen. Gleichzeitig gesteht ihm seine Geliebte aus dem Aristokraten-Viertel, dass ihr Vater sie mit einem Mann verlobt habe, der sich ausgerechnet als „die Hand“ herausstellt. Alif muss fliehen, untertauchen. Und erhält dabei Hilfe von unerwarteter Seite: Seine Nachbarin Dina, die er seit Kindertagen kennt, entpuppt sich als toughe Gefährtin. Die beiden suchen Hilfe bei einem skrupellosen Schläger – Vikram dem Vampir – der vor allem Interesse an dem uralten Buch zeigt, das Alif mit sich herum schleppt. Liegt in diesem Buch, das ein Dschinn im 14. Jahrhundert einem Gelehrten diktiert haben soll, der Schlüssel zu Alifs Rettung? Vielleicht nicht im realen Leben, dafür auf einer anderen Ebene? Denn das Buch besteht aus Metaphern, in anderen Worten aus Codes – und damit kann ein Hacker schließlich etwas anfangen!

Alif der Unsichtbare thematisiert die Nähe zweier unsichtbarer Welten: der Welt des Internets, einer Sphäre reiner Information und der Welt unsichtbarer Wesen, der Dschinn, die Allah vor den Menschen aus Feuer geschaffen hat. Ihre Realität steht, wie es im Buch heißt, in einem anderen Winkel zur Welt, sie sind am gleichen Ort, aber man sieht sie nicht. Wenn es jemandem gelänge, diese beiden Welten – Digitalität und Dschinn - zusammenzubringen, könnte er in ganz neue Dimensionen vorstoßen.
Kann der Protagonist dieser jemand sein? Es handelt sich um einen jungen Mann, der in der realen Welt einigermaßen verloren ist. Ein Mischling, dessen arabischer Vater die Familie immer seltener besucht. Er ist in eine unerreichbare Aristokratin verliebt und in nichts wirklich festgelegt, was zum Beispiel Lebensentwurf, Religion oder Moral anbetrifft. Wirkliches Interesse schenkt er seinen Fantasy-Romanen und der Metaebene, dem Internet, der Welt der Codes. Deswegen reagiert er auf seiner Flucht innerhalb der Stadt immer wieder seltsam unbeholfen, sieht hilflos zu, wie andere sich für ihn in Gefahr bringen, steht der Offenbarung der Dschinnenwelt bis zum Ende sprachlos, verwundert, zweifelnd gegenüber. Erst als er ahnt, das Problem auf seine Art, durch das Schreiben von Code, lösen zu können, ist er wieder in seinem Element.
Nur wenige Seiten haben wir Zeit, Alif in seinem Alltag kennenzulernen und schon wird er als Hacker enttarnt und wir folgen ihm auf seiner Flucht. Zum Glück wird auch sein (fragwürdiger) Helfer schon relativ früh eingeführt: Vikram der Vampir ist die Schnittstelle zwischen unserer und der Dschinnenwelt. Er führt Alif und den Leser an Orte, die wir wie durch einen Dunstschleier wahrnehmen, eine Realität, die unser Verstand leugnet. Die Figur ist nicht nur ein wichtiges Element in der Handlung, sie ist erzählerisch einfach großartig gelungen, eine Mischung aus Mephistopheles und Shinigami, ein zeitlos fragwürdiges Monster, ein Vampir unter den Dschinn.
Stilistisch meisterhaft gelingt der Autorin der Übergang vom Alltags-Slang, den Alif mit seinen Hackerkumpels pflegt – eine derbe Mischung aus Gebetsfloskeln (so Gott will, Gott sei es gedankt) und humorvollen Hieben, die jedes Mal bis weit unter die Gürtellinie reichen – hin zu einem sagenumwobenen Ton, der vor allem anklingt, wenn die Geschichten aus dem Alf Yeom zitiert werden: einem Buch im Buch im Buch, denn das Dschinnenbuch besteht, genau wie sein Pendant Tausendundeinenacht, aus einer Rahmenhandlung und einzelnen Geschichten. Viele arabische Vokabeln finden Einzug in den Text, sowie Begriffe auf Hebräisch, Urdu, Bengalisch uvm. Eine Idee, was sie bedeuten, bekommt man aus dem Kontext, man kann aber auch hinten im Glossar nachschlagen. Diese Einsprengsel, Hagoo für „Mist“ oder Ful für „Bohnenbrei“ erzeugen Authentizität wie auch der Jasmin, der Hibiskus, der Smog, der Muezzin und die Katzen, die ganz nebenbei und unaufdringlich durch den Text wandern und wabern.
Die große Fallhöhe des Romans besteht wohl darin, inwiefern es der Autorin gelingt, das Verschmelzen von Sagen- und Internetwelt in Worte zu fassen und zu plausibilisieren, inwiefern ein weiterer Schritt in der Informations-Evolution – denn darauf läuft diese Verbindung wohl hinaus – überhaupt erstrebenswert ist. Zweiteres erklärt sich vielleicht ganz leicht: wenn etwas möglich ist, dann wird es auch gemacht. Die Eisenbahn, das Flugzeug, die Bombe, das Internet. Bestimmte Vorkommnisse haben diese Dinge getriggert, moralische Zweifel haben sie nicht verhindert, und heute haben wir ganz selbstverständlichen Umgang mit ihnen. Auch wenn nur wenige von uns ihre Funktionsweise verstehen und der Schöpfer hinter dem Werk und die Art seines Schaffens oft unsichtbar sind.
Um uns die Welt der Codes und des Mythos vielleicht nicht verständlich aber dafür erfahrbar zu machen, arbeitet die Autorin mit Träumen, mit Trancezuständen, Vexierbildern und Metaphern. Wenn Alif durch Herumtüfteln oder wie in einem Trancezustand einen Code geschrieben hat, weiß er danach manchmal selbst nicht, warum und wie das Programm funktioniert. Da ich mich selbst nie am Programmieren versucht habe, ist das natürlich ein dankbarer Weg, der ein Zuviel an Facesimpelei vermeidet. Aber auch jemand, der tiefer in der Materie steckt, wird hoffentlich an Traumfetzen wie: „Eine Hirschkuh sprang über seine Augenlider, verfolgt von einem Hirsch; die Landschaft, die sie durchquerten, war eine Linux-Plattform“ Gefallen finden.
Nach anfänglicher Skepsis, einem USB-Stick auf dem Cover, dem ätherischer Rauch entsteigt… war ich schon nach wenigen Seiten geläutert. Die Dialoge flutschen so natürlich durch die Zeilen – ich hörte direkt meinen besten ägyptischen Kumpel in meinem Kopf schwadronieren - was wohl auch für eine gelungene Übersetzung spricht (… nur wo zur Hölle ist in der deutschen Fassung der Prolog geblieben, frage ich mich?!) Das Setting, die Figuren, die Stimmung – alles tritt einem ganz mühelos vor’s innere Auge und dass der Roman eine weitere Vampir-Legende, diesmal indischen Ursprungs, mitbringt, ist ein besonderes Plus. Eine unbedingte Empfehlung für Leser, die gerne auch mal zwischen den Genres, in dem Fall Fantasy und Science-Fiction/Internetroman, mäandern. [Caro]

 

G. Willow Wilson
Alif der Unsichtbare (Alif the Unseen)
fischer Euro 9,99
Mit dem World Fantasy Award als „Bester Roman des Jahres“ausgezeichnet


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